Wenn wir unsere Zeit nicht für das Austragen von Konflikten, sondern für die Suche nach Lösungen benutzen wollen, wenn wir Brücken der Verständigung innerhalb der Bildungsgemeinschaft schaffen wollen, dann versuchen wir es doch mal mit Konzepten aus der Organisationspsychologie, nämlich der ‚Achtsamkeitskultur‘.
Dieses Konzept entstand aus der Frage, wie Organisationen optimal auf Konflikte, Störungen und Katastrophen reagieren könnten. Die amerikanischen Organisationspsychologen Weick und Sutcliffe untersuchten dies und stellten fest, dass der Inbegriff von Organisationsleistung „ein hohes Situationsbewusstsein“ sei. Damit meinen sie, dass man/frau sich in der Interaktion des jeweiligen Kontextes mit ihren Akteuren bewusst ist und darauf achtet, inwieweit die gegebene Situation von den eigenen Erwartungen abweicht. So gelange man/frau von der individuellen zu einer ganzheitlichen Sichtweise im gegenwärtigen Augenblick. (siehe Weick/Sutcliffe, Umgang mit dem Unerwarteten. Stuttgart S. 34)
Wenn man die verfügbare Zeit in achtsamer Kommunikation verwendet, dann kann eine leistungsfähige und dynamische, ‚Lernende Organisation‘ entstehen, die für die komplexe Themen unserer Zeit adäquate Lösungen entwickeln kann.
Sie geht zunächst von der Voraussetzung aus, dass der Mensch keine triviale Maschine ist, die es zu lenken und zu unterwerfen gilt, sondern ein Wesen, das mit Potenzialen – und auch mit Unvollkommenheiten – ausgestattet ist. Die Stärken der Akteure eines Systems zusammengenommen, also die Intelligenz vieler, können der Gruppe dann zu einer größeren Effizienz verhelfen als eine Hierarchie, die auf einer personalisierten und vertikalen Autorität beruht, die sich natürlicherweise auf eine enge und einseitige Wahrnehmung der Ereignisse beschränkt, so dass sie nicht allein in der Lage ist, optimale Lösungen für komplexe Probleme zu finden.
Was bedeutet das für uns Lehrer? Es bedeutet: Indem wir einen bewussten Schritt in Richtung Selbst-/Beobachtung unternehmen, also Situationsbewusstsein praktizieren, sind wir eher in der Lage, die Prozesse im Klassenzimmer zu erfassen, Fehler früher wahrzunehmen und Konflikte zu antizipieren. Stattdessen können wir unsere Energie auf die Lernprozesse im Unterricht richten und damit für eine höhere Prozessqualität und höhere Leistungen sorgen.
Und noch etwas lehrt uns das systemische Denken: Das eigene Denken und Handeln bedingt auch das eines anderen Kollegen/Mitschülers, auch wenn er es nicht hört oder sieht, denn in dynamischen Organisationen sind wir keine getrennten Individuen, sondern mental-energetisch miteinander verbunden. Und wenn mein Unterricht schlecht ist, wird sich das auf den Rest der Schule auswirken, auch wenn man/frau es nicht sofort merkt.
Diese Ethik der kollektiven Verantwortung , die Idee ‚Einer für alle, alle für einen‘ wird uns in Zukunft Erfolg bescheren, weil, wie Einstein sagte, Probleme nicht auf der gleichen Ebene gelöst werden können, auf der sie entstanden sind.
Sehen Sie sich dazu dieses Diagramm zur Achtsamkeitskultur an:
Prozessqualität Organisationale Achtsamkeit
(Quelle: Darstellung Ochoa nach Weick/Sutcliffe)
Erläuterungen:
1. Fehler und Fehlfunktionen rechtzeitig erkennen heißt zunächst, Fehler positiv als Indikator für die Verbesserung des Systems zu sehen, so dass die Überwindung eines Defizits allen Akteuren der Schule zugutekommt. Diese Sichtweise setzt voraus,
- dass man von der überkommenen Defizithaltung bei Fehlern bewusst Abstand nimmt, Schuldzuweisungen vermeidet und nach Lösungen sucht und
- dass jeder sich als Teil des dynamischen Schulsystems sieht.
Diese Haltung unterscheidet sich von der typischen Reaktion einer traditionellen hierarchischen und patriarchalischen Institution, die sich selbst als übergeordnetes Befehlsorgan versteht, und ihrer Lehrer als Vertreter dieser Ordnung, die auf Kontrolle und Zwang beruht und Autorität mit Effektivität verwechselt;
2. mit Sensibilität die Interaktionen zwischen allen Teilnehmern der Schulveranstaltung zu beobachten impliziert auch Selbstkritik, Selbsteinschätzung und Ablehnung der Routine – und fordert dazu auf, den Geist der Solidarität zu erneuern sowie Konkurrenz und Rivalität unter den Kollegen zu überwinden;
3. mit Flexibilität zu reagieren, denn eine Kultur des Defizits (des Versagens oder Fehlers) wird nicht mehr praktiziert, sondern es wird nach Lösungen gesucht, indem man mit Kreativität, Intelligenz und Ungezwungenheit handelt;
4. keine groben Vereinfachungen oder monokausale Erklärungen von Konflikten oder Problemen akzeptieren, denn wenn eine Schulgemeinschaft sich als „Lernende Organisation“ verstehen will, sollte sie daran interessiert sein, auf der Basis einer Feedbackkultur Systeme und Veränderungsprozesse zu analysieren und nicht zu vereinfachen.
5. eine hohe Wertschätzung des größeren Wissens und der Erfahrung einer Person unabhängig von persönlicher Sympathie oder von ihrer Stellung in der Organisation zu praktizieren, in dem Bewusstsein, dass die gemeinsame Aufgabe ständiges Nachdenken und die Bereitschaft erfordert, die beste Option zu akzeptieren, ganz gleich, von wem sie kommt.
Der Impuls, sich vor anderen zu profilieren, zu versuchen, „Querdenker“ auszuschließen, indem man Vorurteile verbreitet oder predigt, was „richtig“ und „falsch“ ist, sollte in dem Bewusstsein, dass diese Einstellungen nicht zu einem offenen und dynamischen Schulprozess gehören, einer Selbstbeobachtung und -kontrolle unterworfen werden.
Wie wir sehen, geht es hier auf allen Ebenen um einen Paradigmenwechsel, um einen langen Übungsweg, um den Übergang von einer Kultur des Defizits zu einer Kultur der vollen Achtsamkeit.